Mit offenen Augen

 

 

 

„Ist hier noch ein Platz frei?“

Diese glänzenden Augen, die mich zusammen mit einem strahlenden Lächeln in ihr Abteil einladen!

„Aber natürlich, bitte!“

Dass die zwei anderen Insassen zustimmend brummeln, registriere ich kaum.

 

Umständlich setze ich mich auf den freien Platz dem Mädchen gegenüber und packe ein Taschenbuch aus meinem Rucksack aus. Doch ich kann mich nicht auf den Text konzentrieren, immer wieder schiele ich zu dem blonden Mädchen mit den dunkelbraunen Augen hin. Sie trägt ein hautenges langärmliges gelbes Shirt, das ihre schlanke Figur gut untermalt. Jetzt kuschelt sie sich in ihre Jacke, die an den Haken neben sie gehängt über ihre Schulter fällt, und schläft. Vielleicht döst sie aber auch nur oder schließt nachdenklich die Augen. Schade.

 

Sie hat mich angesehen als schaue sie durch mich hindurch, als ich in das Abteil kam. So als hätte sie mich gar nicht bewusst gesehen, sondern wäre mit ihren Gedanken weit, weit weg. Was sie wohl gerade denkt? Ob sie an etwas Bestimmtes denkt oder einfach nur vor sich hinträumt? Ihre Gesichtszüge sind weich und entspannt, gleichmäßig geht ihr Atem.

 

Sie hat eine große Reisetasche bei sich, wahrscheinlich kommt sie genauso wie ich aus den Ferien. Oder sie ist gerade auf dem Weg zu ihrem Ferienort. Wohin ihr Weg wohl führt?

 

Hoffentlich fährt sie noch bis Kassel mit, ich könnte stundenlang das schlafende Mädchen anschauen. Wie alt sie wohl sein mag? Siebzehn oder achtzehn vielleicht. Ein wunderschönes Alter, wenn man so zurückdenkt. Erwachsen werden, erste oder zweite Liebe, ach ja... Wie gern wäre ich jetzt fünfzehn Jahre jünger! Wenn wir dann auch noch alleine im Abteil wären... Hilfe! Was denke ich denn! Sie ist ein wildfremdes Mädchen, das genauso durch die Welt gondelt wie ich und alle anderen Menschen in diesem Zug auch. Und doch ist da etwas, was meinen Blick an ihr fesselt. Selbst wenn sie die Augen geschlossen hat, die mich ja als erstes gefesselt haben, so strahlt sie eine innere Ruhe und Liebe aus, die einen selber nicht in Ruhe lässt, so paradox es auch klingen mag.

 

Jetzt räkelt sie sich und streicht dabei mit der Hand über ihren Oberschenkel. Ich ertappe mich dabei, wie ein seltsam weicher Schauer von mir Besitz ergreift, für einen Moment kribbelt es an allen Nervenenden. Wenn sie jetzt... nein, es gehört sich nicht so etwas zu denken! Doch – träumen darf man ja.

 

Wenn sie jetzt meinen Oberschenkel statt den ihren gestreichelt hätte... Welch ein wunderschönes Gefühl der Zärtlichkeit, das einen plötzlich übermannt! Ich könnte stundenlang in ihren weich über die Schulter fallenden Locken wühlen, würde ihren gesamten Körper mit sanften Küssen bedecken, würde mich an ihrem leeren und doch eindringlichen Blick laben, würde sie ins tiefste Abenteuerland der Gefühle entführen.

 

Einer der Herren am Fenster bewegt sich, ich schrecke hoch und konzentriere mich mit aller Kraft auf meine Lektüre. Der Blick des Mannes schweift gelangweilt durch das Abteil, doch dann empfindet er die draußen vorbeifliegende Landschaft doch für interessanter und wendet sich ab. Ich atme unhörbar auf, als hätte ich etwas Unanständiges gemacht und sei nur knapp entwischt. Ist es denn unanständig sich seine Gedanken über einen auffälligen Mitmenschen zu machen? Einen besonders auffällig hübschen Mitmenschen? Eigentlich nicht, wozu heißt es denn schließlich: Die Gedanken sind frei! Ich darf mir nur nichts anmerken lassen, nehme ich mir vor. Und versinke wieder in meinen Träumen.

 

Viel zu schnell geht die Zugfahrt vorüber, ich muss aussteigen. Gerade als ich mir den Rucksack auf den Rücken schwinge, bremst der Zug unerwartet ab. Erschrocken stütze ich mich an der Lehne des schönen Mädchens ab um einem Zusammenstoß zu entgehen. Auch wenn ich mir die vergangene Stunde die ganze Zeit von einem Zusammenstoß auf anderer Ebene ausgemalt habe, möchte ich die Schlafende nicht aufschrecken, die sich nur in ihrem Sitz räkelt. Dabei rutscht die Jacke von ihrer Schulter und gibt den Blick frei auf drei schwarze Punkte auf ihrem Oberarm.

 

Betreten murmle ich ein „Auf Wiedersehen“ und stolpere zum Ausgang. Vor meinen Augen tanzen schwarze Punkte auf gelbem Hintergrund, eine listige Stimme in meinem Kopf kichert immer wieder: „Du hast geträumt ohne zu wissen wer sie ist! Ohne zu wissen wer sie ist...“

 

Langsam schlurfe ich den Bahnsteig entlang, über die vergangene Stunde nachsinnend. Plötzlich stoße ich mit einem Hindernis zusammen.

 

„Hey, du! Bist du blind oder was?“